Vom 01.09.2009 bis 31.08.2010 lebte ich im tschechischen Litomerice, wo ich deutsche Touristengruppen durch das benachbarte ehemalige KZ Theresienstadt führte – als „freiwilliges soziales Jahr im Ausland“ (FSJ).
Für Interessierte: Zu diesem Thema habe ich bei Holger Klein in der Sendung „Ferngespräche“ angerufen und daraus ist ein einstündiger Podcast geworden.
Meine Trägerorganisation hieß Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF). Nachfolgend haben Sie die Möglichkeit, meinen Abschlussbericht zu lesen: Download als PDF-Datei
Liebe Förderinnen und Förderer, liebe Freunde, liebe Interessierte,
mein Freiwilligendienst in der Tschechischen Republik nähert sich mit großen Schritten dem Ende. Es ist an der Zeit, Bilanz zu ziehen über all die Dinge, die in den letzten 12 Monaten passiert sind.
Diesem Bericht liegt, wie auch dem 1. Bericht, eine Gliederung zu Grunde, um meine vielen Gedanken in eine hoffentlich verständliche Form zu gießen. Zur Unterstreichung meines Halbjahresberichtes, der unsichtbar auch hinter diesem Abschlussbericht steht, möchte ich an dieser Stelle noch einmal eine kurze Zusammenfassung über meine Arbeit in Theresienstadt bringen:
Vor allem kommen hierher die Gruppen aus Deutschland. Wir machen eigentlich alles, vom ersten Kontakt der Gruppen per Telefon oder E-Mail, Planung des gesamten Aufenthaltes, Unterbringung (Begegnungsstätte oder Hotel), Essen buchen, Geldangelegenheiten, Führungen durch Theresienstadt (große Festung, das ehemalige Ghetto und KZ mit Museen und Ausstellungen), Lidice und Prag (jüdisches Viertel) und zahlreiche Workshops, die sehr tiefes, detailliertes historisches Arbeiten zulassen.
In einem Workshop erhalten die Jugendlichen beispielsweise, eingeteilt in verschiedene Gruppen, eine Transportnummer einer ehemals inhaftierten Person. Mithilfe vollständiger Kopien der Transportlisten, die uns erhalten geblieben sind, finden die Schüler mehr über die Personen heraus.
Wenn sie den Namen, ehemaligen Beruf, Geburtsdatum und Ort des Abtransportes der betreffenden Person herausbekommen haben, händigen wir ihnen eine Mappe mit einer ausführlichen Biographie der entsprechenden Person aus. Ziel dieses Workshops ist ein emotionaler Bezug zu den Opfern des Holocaust. Die Nationalsozialisten haben Menschen zu Nummern degradiert. Wir gehen den Weg zurück und versuchen, wieder den Menschen nachzuzeichnen, der sich hinter dieser Nummer verbirgt. Allerdings benötigt man dafür auch etwas Zeit.
Unsere Methoden zielen primär nicht auf die Anhäufung von Faktenwissen ab, wie es manchen Lehrern vielleicht sehr lieb wäre, sondern sie sollen die Teilnehmer zum Nachdenken anregen und einen Teil dazu beitragen, dass so etwas wie der Holocaust nie wieder passiert.
Auch der Propagandafilm, der im Auftrag der SS im Ghetto gedreht wurde, liegt uns vor und wir arbeiten mit den Gruppen an den Szenen dieses Dokuments. Natürlich ordnen wir diesen Film vorher und nachher ausführlich ein. Da die Arbeit ein starkes, kritisches Reflexionsvermögen voraussetzt, arbeiten wir meist nur mit volljährigen Jugendlichen an diesem Film.
Wir nehmen auch Kontakt zu den noch lebenden Zeitzeugen auf und laden sie nach Prag oder Theresienstadt zu Gesprächen mit unseren Gruppen ein. Meist befindet sich dieses Zeitzeugengespräch am Ende eines Aufenthalts in Terezín und rundet die Sache in einer stark emotionalen Form ab.
Bis jetzt konnten mir alle Gruppen bestätigen, dass sie es als eindrucksvollen Abschluss der Zeit in Terezín empfanden, wenn sie mit einem Menschen ins Gespräch kommen konnten, der die Geschehnisse, mit denen sie sich die ganze Woche auseinandergesetzt haben, am eigenen Leib erlebt hat.
Zeitzeugengespräch mit Frau Podmelová
und Schülern vom Coubertin und Dahte Gymnasium aus Berlin
Prag, November 2009
Neben diesen Angeboten bieten wir natürlich auch in besonderer Weise Führungen an. Ich bin selbst immer wieder erstaunt, was so eine „wechselseitige Führung“ letzten Endes den Leuten nahe bringt, was eine frontale Standard-Führung niemals schaffen würde…
Bei dieser „interaktiven“ Führung durch das ehemalige KZ bekommt jeder Schüler eine Mappe zu einer ganz bestimmten Station im Lager ausgehändigt, auf der ein Stadtplan von Terezín aufgeklebt ist. Meist wählen wir diese Methode am Anfang eines Besuches. Die Jugendlichen müssen dann diese Station selbst finden, oft haben wir Gruppen von zwei bis drei Leuten.
Dabei geht es vor allem um spontane Assoziationen und Emotionen beim ersten Auseinandersetzen mit diesen Orten. In der Mappe befindet sich ausführliches Material zu dieser Station. Nach einer Stunde Vorbereitungszeit treffen wir uns wieder an einem zentralen Punkt und gehen gemeinsam durch das ehemalige Ghetto. Dabei stellen die jungen Leute ihren Mitschülern die entsprechenden Gebäude gegenseitig vor. Bei Bedarf ergänzen wir dann oder stellen Fakten richtig, falls es nötig ist.
Tschechien-Ländergruppe erhält eine Führung in der Kleinen Festung
(ehemaliges Gestapo-Gefängnis)
Theresienstadt, Januar 2010
Es ist in der Tat etwas schwierig für mich, all die vielen Eindrücke und wundersamen Begegnungen in Worte zu fassen, natürlich möchte ich diese aber meinen Förderinnen, Förderern und Freunden nicht vorenthalten.
Zuallererst möchte ich auf besonders schöne Momente während meiner Arbeit mit Jugendlichen in der Begegnungsstätte eingehen. Danach versuche ich eine Bilanzierung meiner Erwartungen und Ziele, die ich für dieses Jahr hatte. Zu guter Letzt gehe ich auf die (Zitat ASF-Leitfaden) „interkulturelle und historische Dimension“ dieses Jahres ein. Einfacher ausgedrückt: Wie hat mich all das verändert?
An dieser Stelle möchte ich wiederum allen Menschen, die mir finanziell und inhaltlich diesen Dienst ermöglicht haben, danken. Ohne Ihre und eure Unterstützung hätte ich nicht arbeiten können.
Egal ob Geldspenden, nette Telefongespräche, Spezialwissen zu Themen mit dem Schwerpunkt auf den Holocaust in Tschechien, lange Abende auf unserer berüchtigten Kneipenstraße („Ceské armády“ in Litomerice) oder ein gemeinsames Essen (im Idealfall selbst gekocht…) – das alles hat dieses Jahr in Tschechien zu dem gemacht, was es war: eine rundum gelungene und wunderbare Erfahrung.
Auch in der zweiten Hälfte des Jahres war unser Haus selten nur von 2 Personen bewohnt – nette Menschen aus aller Welt kamen aus verschiedensten Gründen bei uns vorbei, jeden konnte die umwerfende Schönheit der Berge in unserer Nähe und natürlich der gekühlte tschechische Gerstensaft überzeugen.
Aber nicht nur unseren Gästen gilt tiefer Dank – vor allem denen, die uns während unserer vielen Reisen aufnahmen und versorgten. Spätestens nach meinen Erfahrungen mit dem „Couchsurfing“-Prinzip in Tschechien, Polen und Litauen werde ich vermutlich nie mehr „all inclusive“-Reisen mit Reiseführer mitmachen.
Vor allem die ASF-Ländergruppe und die Freiwilligen vom österreichischen Gedenkdienst in Tschechien haben es uns ermöglicht, weite Teile der tschechischen Republik zu erkunden.
Dank sei gesagt an (von Westen nach Osten):
Philipp in Ústí nad Labem (Aussig), Felix in Ceské Budejovice (Budweis), David, Almut und Finja in Praha (Prag), Silvia und Susanne in Brno (Brünn), Magda in Olomouc (Olmütz) und Konstantin in Ostrava (Mährisch-Ostrau)
Die ASF-Ländergruppe in Tschechien beim Wandern,
in der Nähe von Techlovice nad Labem (Tichlowitz)
tschechische Republik, 2010
Der Bericht kann alternativ auch als PDF-Datei heruntergeladen werden:
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Lesen Sie hier weiter:
Meine Arbeitsstelle in Theresienstadt
Erwartungen an dieses Jahr
Heimat – Herkunft
Hat mich dieses Jahr verändert?
Tschechien (eine Liebeserklärung)
Völkermord im Baltikum 1941–1944
Teile aus meinem Halbjahresbericht gibt es hier:
Praha (Prag) – Vorbereitungsseminar
Litomerice – jsem doma!
Die Gedenkstätte – ein Mikrokosmos
Ostrava, Oswiecim, Olomouc