Archiv für den Monat: August 2011

Völkermord im Baltikum 1941–1944

Ich wurde schon einige Male gefragt, wann für mich denn die Gegenwart der NS-Geschichte wirklich spürbar geworden ist. Bei Zeitzeugengesprächen mit Überlebenden von Theresienstadt – ja. In den Filmen von Claude Lanzmann, die zu den besten Filmen über den Holocaust gehören, die je gedreht wurden – ja.

Sehr stark spürbar wurde das „Erbe“ unserer Vorfahren in Vilnius, einst als „Jerusalem des Nordens“ genannt.


Seite 6 des s.g. Jäger-Reports
Summe der Ermordeten vom 02.07.41 bis 25.11.41: 137 346 Menschen, vor allem Juden

Noch bevor auf der Wannsee-Konferenz in Berlin über die „Endlösung der Judenfrage“ entschieden wurde und man auch Detailliertes über Theresienstadt beschloss, hatten Verbände der „Einsatzgruppen“ in Litauen schon 46403 Juden, 55556 Jüdinnen und 34464 jüdische Kinder auf grausamste Weise massenweise ermordet.
Die Überlebenden dieser Massaker (ca. 34500 Juden) brauchte man als Zwangsarbeiter (z.B. in der Rüstungsindustrie).

Furchtbar betroffen stimmte mich am Ende des Reportes folgender Satz:

„Man kann sich keine Vorstellung machen, welche Freude, Dankbarkeit und Begeisterung diese unsere Massnahme jeweils bei den Freigelassenen und der Bevölkerung auslöste. Mit scharfen Worten musste man sich oft der Begeisterung erwehren, wenn Frauen, Kinder und Männer mit tränenden Augen versuchten, uns die Hände und Füsse zu küssen.“

gez. Jäger
SS-Standartenführer

Wie auch Maurice Russel (Kopf der Gruppe, der Theresienstadt vorgeführt wurde) über den Kommandanten von Auschwitz im Interview mit Claude Lanzmann sinngemäß sagt:

Es waren Leute, die stolz waren auf ihre Arbeit. „Die kommenden Generationen werden dankbar dafür sein, was die Deutschen für Europa getan haben.“

Für mich ist es sehr schwer vorstellbar, wie man zu so einer Meinung kommen kann. Fakt ist: Diese Menschen, ob am Schreibtisch oder auf dem Wachturm in Auschwitz, waren stolz auf ihre Arbeit. Unfassbar.

Auch nach einem Jahr intensivster Beschäftigung mit dem Holocaust gibt es Dinge, die sich mir nicht erschließen. Bestimmte Tatsachen hinterlassen bei mir immer noch ein großes Fragezeichen.

Vilnius, Litauen
vor einer Kirche in Vilnius, Litauen

Tschechien (eine Liebeserklärung)

Was macht dieses unscheinbare, kleine Land mitten in Europa so reizvoll?

Sind es die Personen- und Schnellzüge gestandenen Alters, deren Fenster die letzten zwanzig Jahre nicht geputzt wurden und die so laut sind, dass man es praktisch nicht hinbekommen kann, eine Station zu verschlafen, weil man von dem ohrenbetäubenden Quietschen der Bremsen aus dem Schlaf gerissen wird?

Die älteren Fahrgäste, die einem ohne Nachfrage die nächsten Stationen ansagen und erklären, was es dort zu sehen gibt, auch wenn es nur potthässliche Kühltürme von Fabrikanlagen sind?

Die unzähligen UNESCO-Welterbestätten, die erstaunlich viele kleinere und größere tschechische Städte zu bieten haben?

Oder der Fakt, dass man bei den überdimensionierten Portionen in den Gaststätten, die weniger als ein Drittel der deutschen Preise zu Buche schlagen, quasi nicht verhungern kann?

Vielleicht ist es auch die in Tschechien praktizierte Kneipenkultur, die vorsieht, dass man sich viele Abende mit Freunden zusammensetzt und ganz ungezwungen über Probleme reden kann.

Warum möchte ich immer wieder aufs Neue einfach in Prag eintauchen, obwohl ich ungelogen fast jede Woche seit September des letzten Jahres dort verweile? So viel geballte Kultur auf einem Haufen findet man selten. Und man hat immer wieder aufs Neue den Eindruck, man werde der Stadt nicht gerecht, selbst wenn man dort 20 Jahre verbringen würde. Prag wird immer größer, je länger man sich dort aufhält. Und ich sehe jedes Mal etwas Neues, das ich vorher noch nicht entdeckt hatte, selbst, wenn ich exakt den gleichen Weg gehe.

In bleibender Erinnerung werde ich die unverbesserliche Loyalität und das Talent zum Improvisieren derjenigen Menschen behalten, mit denen ich täglich arbeiten durfte.

Wenn man einmal aufgenommen und „anerkannt“ wurde, wird man von einigen so konsequent umsorgt, dass es einen schon wundern kann. Weiterlesen

Hat mich dieses Jahr verändert?

Wer bis jetzt durchgehalten und auch meinen ersten Bericht gelesen hat, weiß die Antwort.

Ich habe wirklich nicht erwartet, welches Ausmaß diese „Horizonterweiterung“ annimmt.

Zu Saschas und meinem großen Glück durften wir fast unser gesamtes Jahr mit Rudolf Grimm – von Beruf unser Held und Leistungssportler mit 74 Jahren – verbringen. Er hatte nach seiner Pensionierung als Solo-Cellist in Koblenz einen Freiwilligendienst mit ASF in Theresienstadt ausprobiert und scheint irgendwie „hängen geblieben“ zu sein, denn er kam fast jeden Tag unseres Jahres ins Freiwilligenbüro.

Mit Leuten zu sprechen, die einen solchen Erfahrungsschatz haben und trotzdem auf der „gleichen Wellenlänge“ sind, ist unersetzlich.

Dadurch, dass wir (Sascha, Rudolf und ich, meist auch unser Ex-Gedenkstättenmitarbeiter Karel) des Öfteren in „unserer Vinotheka“ zusammensaßen und Rudolf Geschichten von früher zum Besten gab, habe ich nicht so viele tschechische Mädchen kennengelernt wie mir prophezeit wurde und leider ist mein Tschechisch immer noch nicht salonfähig, aber ich kann nicht sagen, dass ich nicht viel erlebt habe.

Rudolf scheint sich in Tschechien verliebt zu haben, genau wie ich.

Litomerice
unser „Lito“ (Litomerice) im Schnee