Arbeiten bis zum Umfallen, oder:
Vollkommen kaputt, aber glücklich
Wahnsinnsarbeitsstelle! Wir müssen uns wirklich nicht den Vorwurf machen, dass wir nichts zu tun hatten. Teilweise waren wir wirklich rund um die Uhr „im Einsatz“.
Das Jahr 2010 war „gruppentechnisch“ von Höhen und Tiefen geprägt. Tendenziell waren in meiner „ersten Hälfte“ interessiertere und angenehmere Gruppen in Theresienstadt, trotzdem gab es auch in der 2. Hälfte meines Dienstes herausragende Gruppen, mit denen ich arbeiten durfte.
Es fing gleich Mitte Januar sehr gut an. Da kam die bereits erwähnte ASF-Ländergruppe nach Theresienstadt, um dort eine Woche inhaltlich zu arbeiten. Wie man sich vorstellen kann, war die Zusammenarbeit anders als bei anderen Gruppen, da ja alle Teilnehmer Freiwillige in Tschechien waren und sehr sensibilisiert an die Sache herangingen.
Außerdem konnten wir unsere verschiedenen Arbeitsstellen miteinander vergleichen und kritisch reflektieren. Ein sehr gelungener Theresienstadt-Aufenthalt, der mit einer zusätzlichen Übernachtung der gesamten Gruppe in unserer Wohnung in Leitmeritz endete. Dabei wurde der Wohnung (Altbau, ca. 100 qm Dachgeschoss) eine Auslastungsmöglichkeit von 12 Personen attestiert.
besagte Ländergruppe bei einem Schlammband in Rehlovice (Groß Tschochau)
tschechische Republik, Juni 2010
Im März kamen dann die – bereits von ihren Seminaren berühmt berüchtigten – „Sachsen“ bei uns vorbei, genauer gesagt der Sächsische Förderverein der Jugendbegegnung in Terezín CR e.V., deren Mitglieder (z.B. Friedemann Bringt, Jürgen Scheinert und Armin Pietsch) uns sehr geprägt haben. Eine wunderbare und sehr außergewöhnliche Gruppe, mit der man wirklich alle Grenzen ausprobieren kann (und vor 4 Uhr nicht ins Bett kommt).
Die Gruppe, die von allen meinen Gruppen mit Abstand am besten vorbereitet war, war die Mosaik-Grundschule aus Peitz, welche Anfang Mai den Weg zu uns fand. Die fast 80 kleinen „Peitzer Pimpfe“, alle in der 6. Klasse, hatten ein Jahr lang in allen Fächern zu Theresienstadt gearbeitet. Das war sehr zu merken. Jeder Abend endete mit einer kulturellen Einlage – Singen auf dem Dachboden und traditionelle jüdische Tänze. Es ist schon sehr erstaunlich, welche Gedanken bereits Sechstklässler haben und formulieren können, wenn sie inhaltlich einwandfrei vorbereitet werden. An dieser Stelle größten Respekt vor Herrn Frank Nedoma, den Schulleiter der Grundschule, der für dieses Projekt verantwortlich ist und seit Jahren mit großem Erfolg „durchboxt“.
Sonst war das Gegenteil die Regel: Vieles, was Lehrer vorher hätten machen können und hätten tun sollen, mussten wir in Theresienstadt übernehmen, damit ein Annähern an das wirklich sehr komplexe Thema „Theresienstadt von 1941 bis 1945“ überhaupt möglich war.
Dabei haben wir oft wertvolle Zeit verloren.
Mitte Juni durfte ich dann in Zittau einen Vortrag speziell über den in Theresienstadt gedrehten Propagandafilm halten – ich war vorher bei einer Veranstaltung des Fritz-Bauer-Institutes in Frankfurt am Main dabei gewesen und hatte mich dort entsprechend fortbilden können.
Ich wurde von Armin (Mitglied des schon erwähnten sächsischen Fördervereins für Theresienstadt) in die Hillersche Villa eingeladen und konnte dort mit einer deutsch-tschechischen Gruppe arbeiten, wobei perfekt simultan übersetzt wurde. Sehr angenehm! Natürlich hatte ich auch etwas Zeit, mit Armin die Lausitz zu erkunden, und Theater- und Konzertbesuche in Zittau und Görlitz blieben nicht aus.
Einen schönen runden Abschluss bildete die Mehrtagesgruppe der BASA aus Neu-Ansprach, die Mitte Juni kam. Ausschließlich aus Teilnehmern mit Migrationshintergrund zusammengestellt, gestalteten sich besonders die Abende sehr interessant. So saß man dann noch nach Mitternacht bei geräucherten Rippchen zusammen und sang russische Lieder, um nur ein Highlight zu nennen.
Sehr nett waren auch zwei Klassen von einem Gymnasium aus Luxemburg, deren Schüler zufällig bei Google über unsere neu gestaltete Webseite „gestolpert“ waren und sich dann kurz entschlossen, Anfang Juli nach Theresienstadt zu fahren. Es war einerseits sehr spannend, Sprachen wie Luxemburgisch zu hören, andererseits noch spannender, zu sehen, wie der Holocaust in anderen Ländern (sonst hatte ich immer nur Schüler aus Deutschland) in der Schule behandelt wird.
Es gab aber auch Momente, in denen ich sehr wütend bzw. traurig war. Es kamen rassistische Äußerungen von Lehrern, unbedacht formulierte, latent antisemitische Äußerungen von Schülern, hohle Phrasen von Gruppenleitern. So setzte sich beispielsweise ein Verantwortlicher über die gesamte Führung von seiner Gruppe ab und verbrachte die Stunden, in denen ich mit seiner von der Disziplin her schwierigen Gruppe eine Führung versuchte, in einem Kaffee. Danach sagte er mir: „Herr Wulff-Woesten, wir finden das ja so toll, was Sie hier tun.“ Dieser Satz hat mich sehr frustriert.
Man muss sich auch wundern, wenn Lehrer darauf bestehen, dass eine Gruppe von Deutschtürken, die wir betreut haben, beim Essen doch gefälligst deutsch sprechen soll. Ich kann mir nicht vorstellen, mit meinen ASF-Kollegen in Tschechien nur tschechisch sprechen zu dürfen, ich wäre verloren!
Riskant wurde es, als mir ein Achtzehnjähriger nach 2 Tagen Aufenthalt in der Begegnungsstätte sagte, er fände es richtig, „dass man die Schwulen ins KZ geschickt hat.“ Schwer für mich war nicht die Diskussion mit ihm – diskutieren kann ich. Schlimm war, dass weder Mitschüler noch Lehrer etwas dazu sagten… ein großes Schweigen. Ich bin überzeugt davon, dass noch mehr Menschen in der Gruppe so dachten wie er.
Meine Meinung dazu ist der Gruppe auf jeden Fall jetzt bekannt. Er relativierte auch zum Schluss: „Okay, nicht ins KZ, aber denen gehört mal gehörig der Kopf gewaschen.“
Mit welchen Leuten wir in diesem Jahr zu tun hatten, sprengt jegliche Vorstellungskraft eines Durchschnittsabiturienten:
Hypermotivierte Lehrer, die am liebsten ALLES in einer Stunde machen würden, laxe Gruppenleiter (können wir dann in den Festungswällen grillen?), zu stark konservative katholische Verantwortliche, vollkommen unorganisierte Leute, Reisebüros, die nach einer Stunde „tschüss“ gesagt haben, Jugendliche aus so genannten „Problembezirken“, etc. etc.
Und auch wenn Sascha und mich bestimmte Dinge geärgert haben, sind wir doch sehr daran gewachsen. Eines muss dabei ganz klar gesagt werden: Den meisten Stress hatten wir mit Erwachsenen – in 36 aus 38 Gruppen waren die Jugendlichen okay bis wunderbar.
Wenn ich mal wieder mit der – mir schon einige Male gestellten – Frage konfrontiert werde…
„Ist das nicht ein verschenktes Jahr?“
…dann kann ich nur lachen und den- oder diejenige auf ein bzw. sicherlich mehrere kühle(s) Getränk(e) einladen, denn der Schatz an Geschichten und Erfahrungen, die ich aus dieser Zeit mitnehmen konnte, füllen weit mehr als einen Abend.
An dieser Stelle herzlichen Dank an meinen Kollegen Sascha, mit dem man nicht nur „Pferde stehlen“, sondern auch im fremden Ausland ohne Fahrkarte und landestypische Währung in den Eurocity einsteigen und trotzdem willkommener Gast sein kann, zumal wir das Finanzielle dann doch noch begleichen konnten.
Oder auch ohne einen Plan in die Hauptstadt Litauens zu fahren und drei unglaublich tolle Tage zu verleben ist kein Problem.
v.l.n.r.: meine Wenigkeit, unser freundlicher Gastgeber Severas & Sascha
Vilnius, Litauen
Leider hatten wir beide kein Visum für Russland, sonst wären wir sicher gemeinsam in den großen roten Zug „Vilnius – St. Petersburg“ eingestiegen.
Und auch die Art meines Nachfolgers Yannick ist sehr angenehm – ich freue mich sehr. ASF hat gut ausgewählt! Er war schon 2 Wochen bei uns auf Arbeit und auch zu Hause in der Wohnung und wurde „auf Herz und Nieren getestet“. Dass er mit uns (Sascha und ich haben beide keinen Führerschein) von Danzig nach Dresden 12 Stunden mit dem PKW gefahren ist und uns trotz sehr kurzer Nächte heil nach Hause gebracht hat, verdient höchsten Respekt.
Ich habe alles gegeben, um ihn in unsere Materie einzuarbeiten und hoffe, dass es mir gelungen ist.
Hoffentlich fruchten unsere Versuche, die harte Arbeit etwas zu erleichtern. Wir haben z.B. radikal den kompletten Monat September für Gruppen gesperrt (ich musste 2 Tage nach Ankunft direkt arbeiten), damit die „Neuen“ etwas Zeit zum Eingewöhnen haben. Außerdem kommt zu unserer Koordinatorin Petra noch Jana dazu.
Denn auch für Petra war dieses Jahr wirklich anstrengend und manchmal purer Stress. Wir würden sie gern entlasten und hoffen, dass die Freiwilligen sie im nächsten Jahr nicht so stark einspannen müssen. Sie hat sich eine Verschnaufpause wirklich verdient!
Dank Petra hatten wir nie Probleme, nach einer wirklich harten Zeit unkompliziert Urlaub zu nehmen. Nur durch ihr flexibles „Urlaubskonzept“ war es möglich, 3 Monate am Stück nur zu arbeiten (auch am Wochenende).
Danke für alles, Petra.
Sehr hervorzuheben ist auch das Engagement von Klaudia Schümann, unserer lieben ASF-Länderbeauftragten, wodurch sich die Lage für die Freiwilligen in Theresienstadt sehr verbesserte. Wir haben von ihrer Arbeit in diesem Jahr sehr profitieren können.
Danke, Klaudi!